B. Lösungsvorschlag 1:
I. Zulässigkeit des Widerspruchs 2
1. Verwaltungsrechtsweg
Es liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vor, eine Zuweisung an ein anderes Gericht ist nicht ersichtlich (§ 40 I 1 VwGO). Dem Widerspruchsverfahren zugrunde liegen Normen des Fahrlehrergesetzes, also öffentlich-rechtliches Sonderrecht (sog. Sonderrechtstheorie). Außerdem hat die Behörde einen belastenden Bescheid erlassen (Eingriffsverwaltung, sog. Subordinationstheorie).
2. Statthaftigkeit (§ 68 I VwGO)
a) Es muss ein Verwaltungsakt vorliegen, der nicht von einer obersten Landesbehörde (siehe nachfolgend unter 4 a, bb) erlassen worden ist (§ 68 I 2 Nr. 1 VwGO).
Dass es sich bei dem Bescheid über den Widerruf der Fahrschulerlaubnis vom 5.3.2003 um einen belastenden Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG) handelt, muss nicht weiter ausgeführt werden. Vor Gericht ist die Anfechtungsklage hier die richtige Klageart.
b) Ein gesetzlicher Ausschluss des Vorverfahrens liegt ebenfalls nicht vor ( 68 I 2 VwGO).
c) Es handelt sich bei dem mit Widerspruch angegriffenen Bescheid auch nicht um einen Abhilfebescheid oder einen Widerspruchsbescheid mit erstmaliger Beschwer (§ 68 I 2 Nr. 2 VwGO), sondern um einen sog. Ausgangsbescheid.
d) Der Widerspruch ist statthaft.
3. Widerspruchsbefugnis (Beschwer), § 70 I 1 VwGO i.V. mit § 42 II VwGO analog)
Der Widerspruchsführer ist Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes (sog. Adressatentheorie). Außerdem ist eine Beeinträchtigung der Ausübung des Grundrechtes aus Art. 12 GG nicht ausgeschlossen.
4. Ordnungsgemäßes Widerspruchsverfahren einschl. Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde:
a) Die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde ergibt sich grundsätzlich aus § 73 I 2 VwGO 3.
aa) Vorab ist die sonderrechtliche Regelung des § 73 I 2 Nr. 3 VwGO zu prüfen, Selbstverwaltungsangelegenheit. Es handelt sich hier um den Vollzug des Fahrlehrergesetzes in Form des Widerrufs einer vorher erteilten Erlaubnis, typische Eingriffsverwaltung im Bereich der Gefahrenabwehr (besonderes Polizeirecht). Eine Selbstverwaltungsangelegenheit liegt nicht vor.
bb) Anschließend ist § 73 I 2 Nr. 2 VwGO zu prüfen; auch wiederum als Sonderregelung zur „Generalklausel des § 73 1 2 Nr. 1 VwGO („nächsthöhere Behörde).
Danach ist das Regierungspräsidium Chemnitz selbst Widerspruchsbehörde, wenn die nächsthöhere Behörde (gegenüber dem Regierungspräsidium Chemnitz als Ausgangsbehörde) eine oberste Bundes- oder Landesbehörde ist.
Da das Regierungspräsidium eine Landesbehörde ist, kann die Prüfung. der Frage nach der obersten Bundesbehörde (z.B. ein Bundesministerium) vernachlässigt werden.
Jedoch könnte die nächsthöhere Behörde eine oberste Landesbehörde sein. Die Prüfung dieses Problems gestaltet sich im Freistaat Sachsen nicht einfach wegen Fehlens eines Landesorganisationsgesetzes.
Man kann aber (analog oder hilfsweise) auf § 64 I des Sächsischen Polizeigesetzes zurückgreifen, in welchem der 4-stufige Aufbau der Polizeiverwaltung (allgemeine Polizeibehörden) im Freistaat Sachsen festgelegt ist 4. Dieser Rückgriff auf eine Norm des allgemeinen Polizeirechts ist unproblematisch, da das Fahrlehrerrecht zum besonderen Polizeirecht gehört.
Die Regierungspräsidien werden in § 64 I 2 SP0lG als höhere Polizeiverwaltungsbehörden benannt (i.V. mit § 3 II des Gesetzes über die Regierungspräsidien im Freistaat Sachsen). Diesen „übergeordnet sind die Staatsministerien als sog. oberste Landespolizeibehörden. Demnach ist gegenüber dem Regierungspräsidium Chemnitz insbes. im polizeirechtlichen Bereich die nächsthöhere Behörde eine oberste Landesbehörde. Die Voraussetzungen des § 73 I 2 Nr. 2 VwGO liegen vor, das Regierungspräsidium Chemnitz ist im konkreten Fall gleichzeitig Ausgangs- und Widerspruchsbehörde 5.
b) Nunmehr stellt sich noch die Frage, in welcher Form die Entscheidung des Regierungspräsidiums Chemnitz nach der Erhebung des Widerspruchs (gegen den Ausgangsbescheid des Regierungspräsidiums) zu erfolgen hat, entweder als Bescheid im Rahmen eines Abhilfeverfahrens oder als Widerspruchsbescheid.
Denn grundsätzlich erfolgt nach Erhebung des Widerspruchs das sog. Abhilfeverfahren gemäß § 72 VwGO bei der Ausgangsbehörde, bevor sich die Widerspruchsbehörde mit der Sache befasst. Diese Vorschrift geht aber von dem Regelfall aus, dass die Ausgangsbehörde nicht mit der Widerspruchsbehörde identisch ist 6 und stellt sicher, dass die Ausgangsbehörde im Abhilfeverfahren ihre Entscheidung nochmals überprüft.
Bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde (wie hier im konkreten Fall) findet aber ein Abhilfeverfahren nicht statt, da diese Regelung auf das Tätigwerden zweier selbstständiger Entscheidungsinstanzen zugeschnitten ist 7.
Bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde ergeht deshalb immer ein Widerspruchsbescheid, ein vorgeschaltetes Nichtabhilfeverfahren ist überflüssig 8.
Anmerkung: Zur Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde siehe den Aufsatz Zur Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde...
5. Form- und fristgerechte Einlegung des Widerspruchs, § 70 VwGO
Ist unproblematisch im vorliegenden Fall gegeben.
6. Die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor, der Widerspruch ist zulässig.
II. Begründetheit des Widerspruchs (§ 68 I VwGO i.V. mit § 113 I 1 VwGO analog)
1. Rechtsgrundlage für den Bescheid 9:
a) für den Ausgangsbescheid betr. Widerruf der Fahrschulerlaubnis: § 21 II 2 Fahrlehrergesetz
b) für die evtl. „Verböserung durch die Widerspruchsbehörde betr. Widerruf der Fahrlehrerlaubnis: § 8 II 2 Fahrlehrergesetz (10)
2. Formelle Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheides
Hier sind die Prüfungspunkte Verfahren, Form und Zuständigkeit zu behandeln (§ 46 VwVfG), wobei zu beachten ist, dass Mängel der sachlichen Zuständigkeit der Behörde nicht heilbar sind. Bei einem Verstoß gegen Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit ist der Bescheid bereits wegen dieses Fehlers bei der formellen Rechtmäßigkeit aufzuheben 11.
a) Verfahrens- oder Formfehler sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist im Bescheid das besondere öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs der Fahrschulerlaubnis schriftlich dargelegt worden (§ 80 II 1 Nr. 4, III VwGO).
b) Die sachliche Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Chemnitz um Erlass des Ausgangsbescheides ergibt sich aus § 32 1 des Fahrlehrergesetzes i.V. mit der VO der Staatsregierung über die Zuständigkeit nach dem Fahrlehrerwesen 12. Hierbei geht es um die Frage, ob die Behörde im Außenverhältnis mit der Wahrnehmung der einschlägigen Verwaltungsaufgabe (hier: Vollzug des Fahrlehrergesetzes) und der mit dieser verknüpften verwaltungsbehördlichen Befugnis betraut ist13.
Aufbauhinweis: Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus der der Prüfung der Begründetheit des Widerspruchs vorangestellten Rechtsgrundlage (siehe oben unter 1.).
Ohne diesen „Obersatz der Frage nach der Rechtsgrundlage (für den von der Behörde vorgenommen Eingriff mittels Verwaltungsakt) ist die anschließende Beantwortung der Frage der sachlichen Zuständigkeit überhaupt nicht möglich.
Würde sich die Rechtsgrundlage für einen Eingriff z.B. aus § 3 I SPoIG (sog. Generalklausel) ergeben, so ist die sachlich zuständige Behörde hierfür nach § 68 II SPoIG die Ortspolizeibehörde. Diese „Generalklausel zur sachlichen Zuständigkeit findet i.d.R. immer Anwendung im Zusammenhang mit der Generalklausl des § 3 I SPoIG als Rechtsgrundlage für einen Eingriff.
Auch die Rechtsprechung prüft deshalb bei Eingriffsverwaltungsakten in dieser Reihenfolge: 1. Rechtsgrundlage, dann 2. formelle Rechtmäßigkeit (einschl, sachliche Zuständigkeit) und abschließend 3. die materielle Rechtmäßigkeit.14
3. materielle Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheides:
a) Fehlende Aufzeichnungen (Begründung des Ausgangsbescheides zum Widerruf der Fahrschulerlaubnis):
aa) Tatbestand des § 21 II 2 Fahrlehrergesetz (Unzuverlässigkeit)
Es liegen unzweifelhaft wiederholte Pflichtverletzungen vor, die die Bejahung des Tatbestandsmerkmals der „Unzuverlässigkeit nahe legen. Es muss sich jedoch um „gröbliche Pflichtverletzungen gehandelt haben, „wobei in die Auslegung und Anwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes einfließen muss, dass bei Bejahung der „Gröblichkeit der wiederholten Pflichtverletzungen als zwingend ausgelöste Recht-folge15 dem Betroffenen die Ausübung des Berufs des selbst-ständigen Fahrlehrers (Anm.: es geht hier nur um die Fahrschulerlaubnis, nicht um die Fahrlehrerlaubnis!) auf zumindest erhebliche Dauer verwehrt wird (Art. 12 1 GG)16. Daher kann eine Verletzung der Aufzeichnungspflicht, welche den Zweck der Aufzeichnungen — die ordnungsgemäße Ausbildung der Fahrschüler und damit mittelbar die Sicherheit des Straßenverkehrs sicherzustellen — nicht oder nur am Rande berührt, nicht als „gröblich erachtet werden.
Das gilt für die hier gerügten fehlenden Aufzeichnungspflichten, zumal ansonsten die Behörde keine größeren und weitergehenden Beanstandungen machte. Wegen dieser relativ geringfügigen Verletzungen der Aufzeichnungspflicht ist demnach der Widerruf der Fahrschulerlaubnis nicht gerechtfertigt, es fehlt am Tatbestandsmerkmal der „gröblichen Pflichtverletzung. Es hätte ausgereicht, gegen den Widerspruchsführer erneut ein (erhöhtes) Bußgeld festzulegen, um ihn in Zukunft zu einwandfreier Pflichterfüllung zu veranlassen (17).
Demgegenüber liegt z..B. eine wiederholt gröbliche Pflichtverletzung i.S. dieser Vorschrift vor, wenn der Fahrlehrer über einen Zeitraum von 7 Monaten in 13 Fällen (Verurteilung durch das Amtsgericht Berlin wegen Bestechung und Anstiftung zur Datenveränderung zu einer Bewährungsstrafe von 1 Jahr und 7 Monaten) mittels fingierter Prüfbogen das Bestehen der Fahrprüfung vorgetäuscht hat (18).
bb) Die Rechtsfolge ist wegen der Verneinung des Tatbestandes nicht mehr zu erörtern.
cc) Der Bescheid ist rechtswidrig, verletzt daher Rechte des Widerspruchsführers (Art. 12 GG) und müsste aufgehoben werden (wobei die Anordnung der sofortigen Vollziehung ebenfalls keinen Bestand mehr haben kann).
dd) Es sei denn, die Widerspruchsbehörde kann den ihr erst im Widerspruchsverfahren bekannt gewordenen Sachverhalt (sexuelle Belästigung von Fahrschülerinnen und entspr. strafrechtliche Verurteilung des Widerspruchsführers, nachfolgend unter b) bei Erlass des Widerspruchsbescheides (zusätzlich) zur Begründung des Widerrufs der Fahrschulerlaubnis mit heranziehen (dazu anschließend unter c)
b) Sexuelle Belästigungen von Fahrschülerinnen mit strafrechtliöher Verurteilung des Widerspruchsführers (Begründung der Widerspruchsbehörde nach Erlass des Ausgangsbescheides zum Widerruf der Fahrlehrerlaubnis)
aa) Tatbestand des § 8 II 2 Fahrlehrergesetz (Unzuverlässigkeit)
Mit den sexuellen Übergriffen auf 2 Fahrschülerinnen hat der Widerspruchsführer seine Berufspflicht zu gewissenhafter Ausbildung seiner Fahrschüler gröblich verletzt.
Er hat die mit seiner Ausbildungsfunktion verbundene Autorität dahingehend ausgenutzt, dass er an Fahrschülerinnen während des Unterrichts - z.T. während diese das Schulungsfahrzeug steuerten - sexuelle Handlungen vornahm 19.
Mildere Maßnahmen, wie z..B. vom Widerspruchsführer vorgeschlagen, kommen nicht in Betracht, auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass der Widerspruchsführer wegen seiner Verfehlungen nicht wegen sexueller Nötigung verurteilt worden ist. Entscheidend ist, dass er gegen die ihm als Fahrlehrer obliegenden Berufspflichten verstoßen hat. „Die Ubergriffe in der Vergangenheit belegen, dass der Fahrlehrer nicht in der Lage ist, seinen Geschlechtstrieb zu kontrollieren ... er hat die für ihn wirtschaftlich nachteiligen Folgen des Widerrufs durch eigenes persönliches Fehlverhalten verursacht 20 , zumal die strafgerichtliche Entscheidung inzwischen rechtskräftig geworden ist und deshalb die Hinweise des Widerspruchsführers, die Fahrschülerinnen wollten sich an ihm rächen, lediglich als Schutzbehauptung zu werten sind 21.
Anmerkung: Es besteht ein deutlicher Unterschied in der Bewertung der „gröblichen Pflichtverletzung zwischen der Frage (nur) der Verletzung der Aufzeichnungspflicht und der sexuellen Belästigung der Fahrschülerinnen; deshalb erübrigen sich auch hier weitere Erörterungen im Zusammenhang mit Art. 12 GG !
bb) Nachdem der Tatbestand vorliegt, ist die Rechtsfolge zu prüfen. Sie lautet „ist, d.h. die Behörde hat kein Ermessen, sondern der Widerruf ist nach Bejahung des Tatbestandes zwingend auszusprechen 22. Für Ermessenserwägungen (z.B. Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit usw.) ist im Rahmen der Erörterung der Rechtsfolge hier kein Raum 23!
cc) Der unanfechtbare Widerruf der Fahrlehrerlaubnis führt zum Erlöschen der Fahrschulerlaubnis, § 20 II Fahrlehrergesetz.
c) Nunmehr stellt sich die Frage, ob der unter b) dargelegte Sachverhalt (strafrechtliche Verurteilung) im Zusammenhang mit dem Widerruf der Fahrschulerlaubnis (die im Ausgangsbescheid nur auf die Verletzung von Aufzeichnungspflichten gestützt war) von der Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren zur Begründung mit herangezogen werden kann.
aa) Denn wie oben unter a) festgestellt, reichte die von der Behörde im Ausgangsbescheid vorgetragene Verletzung der Aufzeichnungspflichten zur Erfüllung des Tatbestandes des § 21 II 2 des Fahrlehrergesetzes nicht aus. Im Zusammenhang dieser Pflichtverletzungen mit der strafrechtlichen Verurteilung wegen sexueller Belästigung von Fahrschülerinnen ist aber die Bejahung des Tatbestandsmerkmals der „Unzuverlässigkeit betr. Widerruf der Fahrschulerlaubnis nicht mehr problematisch 24.
bb) Hier gilt zu beachten, dass die Widerspruchsbehörde, wie bereits im Ausgangsbescheid ausgeführt, nunmehr nach wie vor sich wg. des Widerrufs der Fahrschulerlaubnis auf § 21 II 2 des Fahrlehrergesetzes stützt, nur mit jetzt zusätzlichen Gründen, die sich aus einem Sachverhalt ergaben, welcher der Widerspruchsbehörde erst im Laufe des Widerspruchsverfahrens bekannt wurde
cc) Es geht also um die Frage, ob die Widerspruchsbehörde von diesem sog . „Nachschieben von Gründen Gebrauch machen kann.
Die Rspr. hat sich mit dieser Frage insbes. im Zusammenhang mit dem „Nachschieben von Gründen im Verwaltungsprozess, also bei Gericht, beschäftigt, jedoch auch im Zusammenhang mit Entscheidungen der Widerspruchsbehörde 25. Dabei ist die Widerspruchsbehörde sogar befugt, nachträglich eine andere Rechtsgrundlage anzugeben, wenn der Bescheid unter Berücksichtigung der geänderten Begründung nicht in seinem Wesen verändert wird. Die Grenze ist ein Eingriff in die Identität des Verwaltungsaktes mit seinem Regelungsausspruch 26. Bei einem „Auswechseln der Entscheidungsgründe der Ausgangsbehörde liegt in dieser unterschiedlichen rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Verwaltungsaktes durch die Widerspruchsbehörde keine Schlechterstellung des Widerspruchsführers 27. Nicht möglich ist aber eine Anderung des Ausspruchs des Bescheides, also eine Abänderung des Tenors 28, denn dann handelt es sich um eine sog. „Verböserung, siehe nachfolgend unter d).
dd) Diese doch weit reichende Kompetenz der Widerspruchsbehörde ergibt sich aus dem umfassenden Kontrollzweck des Widerspruchsverfahrens und der verfahrensrechtlichen Einheit von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde gemäß den §§ 68, 79 VwGO, auch bei Nicht-Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde 29.
ee) Dieses „Nachschieben von Gründen im Falle des Widerrufs der Fahrschulerlaubnis durch die Widerspruchsbehörde begegnet deshalb keinen rechtlichen Bedenken, zumal hier Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind. Ein sog. „Verböserungsfall liegt nicht vor.
d) Davon zu trennen ist die Frage des Erlasses des Widerspruchsbescheides einschl. „Verböserung betr. den Fall des Widerrufs der Fahrlehrerlaubnis, die im Ausgangsbescheid überhaupt nicht angesprochen war (weil der Sachverhalt „sexuelle Belästigung von Fahrschülerinnen erst im Laufe des Widerspruchsverfahrens bekannt wurde).
aa) Eine vorherige Anhörung gemäß § 71 VwGO erfolgte.
bb) Die Frage der Zulässigkeit einer Verböserung im Widerspruchsverfahren lässt sich der VwGO nicht eindeutig entnehmen. Hinweise auf diese Möglichkeit ergeben sich aber aus den §§ 68 I 2 Nr. 2, 71, 79 I 2 VwGO 30.
Bei fehlender Regelung im jeweiligen Bundes- oder Landesrecht „ist nach den Grundsätzen über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten zu entscheiden. Wer einen ihn belastenden Verwaltungsakt anficht, muss grundsätzlich mit der Verschlechterung seiner Position rechnen, weil mit der Anfechtung der Verwaltungsakt nicht mehr Grundlage eines Vertrauensschutzes sein kaM, jedenfalls solange die „Verböserung nicht zu untragbaren Zuständen führen würde 31.
cc) Typische Verböserungsfälle (und von der Rspr. mitgetragen) sind demnach die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes durch die Widerspruchsbehörde 32 oder die Ausgangsbehörde untersagt ein Gewerbe (§ 35 I 1 GewO), die Widerspruchsbehörde weist den Widerspruch zurück und dehnt die Gewerbeuntersagung gemäß § 35 I 2 GewO aus 33 oder das Landratsamt ordnet den Abbruch des Vordaches eines Gebäudes an, die Widerspruchsbehörde weist den Widerspruch zurück und verlangt den vollständigen Abbruch des Gebäudes 34.
dd) Dabei muss immer beachtet werden, dass die Widerspruchsbehörde zwar (wie oben unter c) dargelegt), eine umfassende Entscheidungs- und Prüfungskompetenz hat, von ihr aber trotzdem gewisse Bindungen zu beachten sind in dem Sinne, dass „sie nur innerhalb des durch den Widerspruch abgesteckten Rahmens handeln darf. Diese Bindung ließe sie außer acht, wenn sie den Widerspruch zum Anlass nähme, inhaltlich neue Regelungen zu treffen, die mit dem angegriffenen Verwaltungsakt nicht mehr in unmittelbarem, notwendigen Zusammenhang stehen 35.
ee) Somit hat die Rspr. nicht akzeptiert, dass die Widerspruchsbehörde den von der Ausgangsbehörde ausgesprochenen Widerruf einer Gaststättenerlaubnis zurückwies und zusätzlich noch eine Zwangsmittelandrohung festlegte 36 oder die Ausgangsbehörde lehnte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab, den Widerspruch wies die Widerspruchsbehörde zurück und erließ gegen den Widerspruchsführer gleichzeitig eine Ausweisungsverfügung 37. Dagegen hatte das OVG Bautzen 38 keine Bedenken gegen eine „Verböserung derart, dass die Ausgangsbehörde einen Antrag auf Erteilung einer tierschutzrechtlichen Erlaubnis zum Betreiben eines Tierheimes ablehnte und dem Widerspruchsführer von der Widerspruchsbehörde unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aufgegeben wurde, die Tiere in ein anderes Tierheim abzugeben.
ff) Im konkreten, hier zu entscheidenden Fall, will die Widerspruchsbehörde zusätzlich zum Widerruf der FahrschulerIaubnis (Ausgangsbescheid) auch noch den Widerruf der Fahrlehrerlaubnis anordnen.
Ein sachlicher und rechtlicher Regelungszusammenhang kann bejaht werden. Die Rechtsgrundlagen für den Widerruf der Fahrschulerlaubnis bzw. die Fahrlehrerlaubnis ähneln sich im Zusammenhang mit den Tatbestandsmerkmalen der „Unzuverlässigkeit sowie der „gröblichen Pflichtverletzung. Man kann auch beide Maßnahmen in den Wirkungen und rechtlichen Voraussetzungen als zumindest wesensverwandte Verwaltungsakte ansehen.
Insbesondere bestehen keine Bedenken gegen eine derartige „Verböserung bei Identität zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbehörde 39 ‚ zumal auch die Widerspruchsbehörde in einem solchen Falle über die gleiche (sachliche) Zuständigkeit wie die „Ausgangsbehörde verfügt 40 und materiellrechtich der Widerspruchsbehörde im konkreten Fall eine Eingriffsnorm (§ 8 II Fahrlehrergesetz) zur Verfügung steht 41.
Bejaht man demnach die Möglichkeit der „Verböserung durch Entscheidung der Widerspruchsbehörde, so muss zwangsläufig aus Gründen der Effektivität der Gefahrenabwehr auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs der Fahrlehrerlaubnis durch die Widerspruchsbehörde angeordnet werden 42.
gg) Im konkreten Fall ist noch zu beachten, dass § 20 II des Fahrlehrergesetzes festlegt, dass die Fahrschulerlaubnis erlischt, wenn die Fahrlehrerlaubnis unanfechtbar widerrufen worden ist 43. Demnach wäre auf den ersten Blick der Ausspruch im Ausgangsbescheid betr. Widerruf der Fahrschulerlaubnis nunmehr „überflüssig.
Im konkreten Fall musste diese Festlegung des Ausgangsbescheides aber bestehen bleiben (und zwar mit Anordnung der sofortigen Vollziehung), weil ein unanfechtbarer Widerruf der Fahrlehrerlaubnis noch nicht vorliegt 44 (diese „Regelung soll jetzt erst im Widerspruchsbescheid ausgesprochen werden), und die Behörde nicht zuwarten kann (§ 80 b VwGO), bis der Widerruf der Fahrlehrerlaubnis unanfechtbar geworden ist.
hh) Durchaus vertretbar ist es aber, im konkreten Fall (mit entspr. Begründung trotz Identität zwischen Ausgangs- und Widerspruchs-behörde) die Möglichkeit der,, Verböserung durch die Widerspruchsbehörde abzulehnen. Das Regierungspräsidium Chemnitz müsste dann einen neuen Bescheid (Zweitbescheid) betr. Widerruf der Fahrlehrerlaubnis erlassen 45, gegen den der Adressat Widerspruch erheben könnte (und darüber entscheidet dann wieder das Regierungspräsidium selbst 1).
Neben der Schwierigkeit der Begründung dieser Lösung erscheint sie auch ziemlich praxisfremd.
e) Die „Kombination der beiden Sachverhalte im Widerspruchsverfahren zeigt in der Gesamtschau nunmehr die Unzuverlässigkeit des Widerspruchsführers betr. Fahrlehrerberuf und Betreiben einer eigenen Fahrschule (§ 2 I Nr. 2, 11 I Nr. 1 Fahrlehrergesetz).
Die Schwere der Pflichtverletzung liegt in der sexuellen Belästigung der Fahrschülerinnen. Der Widerspruchsführer macht in diesem Zusammenhang geltend, es genüge das Verbot der praktischen Ausbildung.
Diesem Argument ist das OVG Münster 46 entgegengetreten:
Ein teilweiser, lediglich die praktische Ausbildung betreffender Widerruf der Fahrlehrerlaubnis ist rechtlich ausgeschlossen. Nach § 8 II i.V. mit § 2 I Nr. 2 Fahrlehrergesetz ist bei nachträglichem Eintritt der Unzuverlässigkeit die Fahrlehrerlaubnis zu widerrufen. Diese ist nicht teilbar. Sie berechtigt nach § 1 1 bis III Fahrlehrergesetz sowohl zur Durchführung des allgemeinen Teils des theoretischen Unterrichts als auch zur praktischen Ausbildung.
f) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gilt auch (und gerade wegen der strafrechtlichen Verurteilung) für den Fall des Widerrufs der Fahrlehrerlaubnis 47 und muss wegen deBejahung der Möglichkeit der „Verböserung im Widerspruchsverfahren auch für diesen Fall (Fahrlehrerlaubnis) ausdrücklich ausgesprochen werden, da vorher nicht für diesen Fall geregelt.
Diese Erwägungen gelten gleichermaßen für den Widerruf der Fahrschulerlaubnis (§ 20 II Fahrlehrergesetz), weil es nicht hingenommen werden kann, dass der Widerspruchs-führer die Fahrschule bis zur Unanfechtbarkeit des Widerrufs der Fahrlehrerlaubflis weiter betreiben kann (besonderes öffentliches Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung in beiden Fällen, § 80 II 1 Nr. 4 VwGO).
4. Auch unter dem Gesichtspunkt der Prüfung der Zweckmäßigkeit (§ 68 II VwGO) ist das bisher gewonnene Ergebnis der gutachterlichen Prüfung im Widerspruchsverfahren nicht zu beanstanden.
III. Tenor (48)
1. Der Widerspruch wird zurückgewiesen.
2. Die Fahrlehrerlaubnis des WiderspruchsführerS wird unter Anordnung der sofortigen Vollziehung widerrufen.
3. Für diesen Bescheid werden Kosten in Höhe von ... Euro festgesetzt (Gebühren und Auslagen)
Anmerkungen zum Tenor:
1. Der Ausspruch in Ziffer 1 zeigt, dass der Widerspruch gegen den Ausgangsbescheid erfolglos ist. Dieser Ausspruch bedeutet auch, dass dieser Bescheid von der Widerspruchs-behörde einschl, der Anordnung der sofortigen Vollziehung bestätigt wurde (trotz § 20 II Fahrlehrergesetz, weil ein unanfechtbarer Widerruf der Fahrlehrerlaubnis noch nicht vorliegt).
2. Der Ausspruch in Ziffer 2 des Tenors regelt die „Verböserung einschl, der Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Widerspruchsbehörde 49.
Es handelt sich insgesamt bei den Tenorierungefl 1 und 2 um einen Fall des erfolglosen Widerspruchs, wie auch die „Verböserung ausdrücklich zeigt.
3. Es fällt auf, dass im Tenor nicht festgelegt ist, wer die Kosten des Widerspruchsverfahrens nach § 80 VwVfG trägt.
Konkret handelt es sich hier um einen Fall des § 80 I 3 VwVfG, Erfolglosigkeit des WiderspruchsführerS.
§ 80 1 3 VwVfG macht zur Grundlage seiner Regelung den auch von den §§ 68, 73 VwGO vorausgesetzten Regelfall des „dreigliedrigen VerfahrensverhältnisseS. Deshalb gewährt er der Verwaltung keinen Erstattungsanspruch in den Fällen, in denen Widerspruchs- und Erlassbehörde identisch sind, wie z.B. bei erstinstanzlichen Entscheidungen der Mittelinstanz (wie hier Regierungspräsidium). In diesem Falle findet eine Erstattung der Verfahrensaufwendungefl der Behörde allein nach Verwaltungskostenrecht statt 50 (siehe nachfolgende Ziffer 3 des Tenors).
Ein Ausspruch zu § 80 VwVfG im Tenor entfällt deshalb.
4. Der Tenor wird abgeschlossen mit der Kostenregelung nach Verwaltungskostenrecht, konkret § 11 I des Sächsischen Verwaltungskostengesetzes.
5. Wird die Möglichkeit der Verböserung durch Entscheidung der Widerspruchsbehörde abgelehnt, so ergeht ein „normaler Tenor im Zusammenhang mit der Erfolglosigkeit des Widerspruchs 51. (betr. nur den Widerruf der Fahrschulerlaubnis entspr. dem Ausgangsbescheid
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